Um 1900 Uhr gab es in Vechta die „Hermanns Dampfbierbrauerei“, damals tatsächlich das größte Unternehmen in der Stadt Vechta. Die grünen Bierflaschen wurden in der Oldenburger Glashütte noch per Hand bzw. per Mund einzeln hergestellt. Eine ungeheure Anstrengung für die Arbeiter damals und dann gab es noch nicht einmal Flaschenpfand (das wurde erst ab 1929 eingeführt!).
Die Familie Hermanns galt für die damalige Zeit als recht modern. Eine Tochter war die erste Frau, die in Vechta mit einem Automobil durch die Straßen fuhr und eine weitere Tochter wagte es sogar, mit deutlich gekürzten Rock zum Tennis zu erscheinen (man konnte ihre Knöchel sehen!). Heinrich Hermanns selber war an technischen Neuerungen sehr interessiert und so verfügte die Brauerei über die modernste und leistungsstärkste Dampfmaschine, die es gab. Sie konnte nicht nur die Brauerei mit Strom versorgen sondern auch das Wohnhaus der Familie, das sich direkt neben der Brauerei befand. In der Hermanns Villa gab es aber nicht nur Strom sondern das Haus war insgesamt recht luxuriös ausgestattet und verfügte über ein WC im Hause! Früher war das wirklich Luxus!
Auch die Stadt Vechta sowie Kaufleute und Wirte in der näheren Umgebung der Brauerei schlossen sich an die Stromleitungen an und konnten (natürlich nicht kostenfrei) die Stromversorgung nutzen. Somit war die Brauerei auch das erste Elektrizitätswerk der Stadt Vechta und sorgte für technischen Fortschritt.
Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Hermanns-Brauerei an Haake-Beck verkauft, denn für viele Brauerei war es in der Nachkriegszeit sehr schwer, weiter zu bestehen. Die Bevölkerung sollte zunächst mit Brot und nicht unbedingt mit Bier versorgt werden, so dass das notwendige Getreide und auch Kohle für die Dampfmaschine stark reglementiert war.
Bis in die 70iger Jahre hinein betrieb Haake-Beck in Vechta eine Niederlassung mit Biervertrieb. Danach wurde der gesamte Komplex nach und nach abgerissen. Auch die schöne weiße Villa verfiel immer mehr und wurde letztendlich „platt“ gemacht. Heute steht an der Stelle ein modernes Bankgebäude und nur noch wenige Menschen erinnern sich an die ehemalige Brauerei. Viele wissen gar nicht, dass Vechta einmal eine große eigene Brauerei besaß.
Bier hatte in der Stadt also durchaus eine wichtige Bedeutung. Bis vor gut einem Jahr gab es in Vechta zehn Jahre lang mit der Stierbräu-Brauerei wieder ein eigenes lokales Bier. Hobbybrauer Dr. Pablo Meissner aus Chile hat in Vechta aus einem ehemaligen Autohaus eine gemütliche Kneipe mit eigener Brauerei aufgebaut. Im Sommer füllte sich der Biergarten regelmäßig mit vielen Stammgästen. Kneipe und Inhaber Pablo erlangten schnell Kultstatus. Doch mit der Kündigung des Verpächters 2017 begann das langsame Ende der Stierbräu-Brauerei. Am neuen Standort, der nach langer Suche endlich geeignet scheint, besteht die Möglichkeit zur Vergrößerung. Also wird für den Umbau Geld investiert. Obwohl die Stadt die erforderlichen Genehmigungen erteilt, legen Immobilieneigentümer aus der Nachbarschaft Klage gegen die neue Brauerei ein. Während des laufenden Verfahrens, in der kein Bier mehr gebraut werden darf und damit die finanziellen Reserven langsam aufgebraucht werden, erleidet Pablo tragischerweise eine Schlaganfall. Es folgen Reha und intensive Therapiemaßnahmen.
Bis heute gibt es keine endgültige Entscheidung des Verwaltungsgerichts, ob ein Brauereibetrieb zukünftig möglich sein wird. Selbst wenn ein positiver Bescheid ergehen sollte (Update 16.04: Das Verwaltungsgericht hat positiv zu Gunsten des Stierbräus entschieden), ist Pablo gesundheitlich aktuell noch nicht in der Lage, Brauerei und Kneipe weiter aufzubauen und sich damit eine neue Existenz zu schaffen. Das Stierbräu steht vor dem Aus, wenn nicht bald noch ein Wunder geschieht.
Ein trauriger Zustand und menschlich gesehen wirklich ein Tragödie, wenn man bedenkt, dass sich Pablo in Vechta über viele Jahre hinweg erfolgreich etwas aufgebaut hat und mit seinem Bier und seiner Kneipe eine absolute Bereicherung für Vechta war.
Unabhängig von den juristischen Schwierigkeiten mit denen er sich auseinandersetzen muss, hat die zusätzliche Erkrankung dafür gesorgt, dass er völlig unverschuldet in eine fast ausweglose Situation geraten ist und vermutlich wieder ganz von vorne anfangen muss.
Vermutlich wird es noch sehr lange dauern, bis die Vechtaer wieder ihr "eigenes" Bier trinken können. Ob es dann wieder ein "Stierbräu"-Bier sein wird oder vielleicht ein anderes Bier: wer weiß?
Dass es
in Vechta aktuell kein lokales Bier mehr gibt und offensichtlich keinerlei Interesse besteht, diesen Zustand zu ändern, kann ich angesichts des aktuellen Craft-Bier-Trends und der Nachfrage nach regionalen Produkten aus kleinen Manufakturen überhaupt nicht
nachvollziehen.
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Stefan Freiwald (Donnerstag, 21 März 2019 08:18)
Schon mal über Crowdfundig nachgedacht? Oder die Gründung einer Genossenschaft? Hat woanders auch geklappt.
Petra Pekeler (Donnerstag, 21 März 2019 08:26)
Crowdfunding wäre sicherlich eine Option WENN: Pablo gesundheitlich wieder in der Lage wäre, Bier zu brauen UND: eine Standortsicherheit gegeben wäre. Alternativ wäre evtl. denkbar, einen komplett neuen Standort aufzubauen (dazu würde Pablo sehr viel Unterstützung benötigen/Investor?) und zusätzlich wäre er auch dort auf Hilfe beim Bier brauen, Flaschenabfüllung, Verkauf etc. angewiesen. Das meiste Geld nimmt er jedoch mit dem Außer-Haus-Verkauf und vor allem mit Kneipe, Biergarten, Stoppelmarkt ein. All das fällt erst einmal weg weil derzeit absolut undenkbar.
Andere Alternative: Das Stierbräu-Bier wird erst einmal in einer andere Brauerei gebraut (als sog. Gypsy-Brauerei) aber fraglich ist, ob das für Pablo und die Vechtaer eine Option wäre.